Da stehst du, komplett in Leder und Verachtung gehüllt, und wartest auf den nächsten Track von Ministry. Doch stattdessen: “I’m a genie in a bottle, baby…” Und du?! Du singst mit. Laut. Wortgetreu. In perfekter Artikulation, als wäre es ein Gebet an die dunkle Gottheit des Britpops. Willkommen in der schizophrenen Soundrealität der Friedhofsfraktion.

Die Lüge vom musikalischen Reinheitsgebot
Goth sein bedeutet oft: Authentizität, Abgrenzung, musikalischer Purismus. Aber die Wahrheit ist: Unter den ganzen Batcave- und Post-Punk-Platten liegen bei allen von euch die Greatest Hits von Britney, TLC und N-Sync. Tief vergraben, aber nicht vergessen. So wie eine alte Geocities-Website, die peinlich ist, aber zu dir gehört. Oder diese Tattoo-Idee, die du mit 16 hattest und mit 41 immer noch nicht ganz ablegst.
Zwangsbeschallung
Wir wurden geformt. Nicht von Baudelaire und Baudrillard, sondern von Boybands auf MTV. Die 90er waren eine Zeit, in der man Popmusik nicht entkommen konnte. Christina war überall. Im Supermarkt. Auf Abi-Feiern. Im Bus. Die Beats waren tänzerisch, die Lyrics simpel, die Hooklines teuflisch klebrig. Psychologisch nennt man es den “Mere Exposure Effekt”, der besagt, dass man bei dauerhafter ..Aussetzung zu einem Sachverhalt, diesem eine wohlige Gewohnheit zuspricht. (Deswegen bepflastert Coca-Cola die Welt mit Merch.) Wer denkt, er sei immun, hat nie nach dem siebten Pernod-Cola die Choreografie von “I want it that way” getanzt.
Ironie ist die Rückversicherung
Gruftis sind ironiefest. Wir tragen Netzhemden bei Schnee und Samt bei 35 Grad. Wir hören zu Weihnachten den “Nightmare Before Christmas” Soundtrack (also, ihr: hier läuft Sinatra). Warum also nicht auch “…Baby One More Time” beim Karaoke? Denn wer die Finsternis ernst nimmt, weiß, dass einen die Einsamkeit umbringt, aber man trotzdem noch glaubt.

Karaoke Katharsis
Nichts, wirklich nichts, bringt mehr kollektive gute Laune als ein überfüllter Gothic-Club, bei dem die schwarze Szene zu “Torn” von Natalie Imbruglia eskaliert. Schwarze Lippen wackeln zu Hochtonnoten, Kampfstiefel stampfen zum Beat. Es ist Trash. Es ist Wahrheit.
Die dunkle Psychologie des Ohrwurms
Popmusik funktioniert wie ein verfluchter Zauberspruch. Sie tarnt sich in Einfachheit und gräbt sich dann wie eine Ceti-Alpha Neuralparasit durch die Windungen deines Stirnlappens. Du kannst zehn Jahre lang auf Wave-Gotik-Treffen pilgern, aber wenn irgendwo jemand “Say my name, say my name” flüstert, bist du geliefert.
Gemeinsam leiden macht schöner

Gruftis sind zwar individualistische Eleganzmaschinen, aber wenn die Meute in den Refrain geht, passiert Magie. In diesem Moment wird der Goth-Club zur Kathedrale des Guilty Pleasures.
Mehr Glitzer auf die Grabplatte!

Vielleicht stehen wir auf Friedhöfen rum und sinnieren über Vergänglichkeit. Aber wenn “Spice Up Your Life” startet, sind wir am Start. Vielleicht sind wir Schattenwesen, aber auch Schatten tanzen, wenn der Beat stimmt. Und das ist keine Kapitulation, das ist Stilpluralismus mit Kajal. Das ist Britney, Bitch!
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