Der Neofolk-Nord-Wahnsinn ist gerade so angesagt wie Avocados im Bio-Supermarkt. Jeder Zweite rennt in Fell und Runen geschmückt auf Festivals herum, die den Charme eines Live-Rollenspiels versprühen – und am Ende kaufen alle denselben Soundtrack von Heilung, Wardruna, Eivør oder Danheim. Aber was zur Götterdämmerung zieht uns in diesen von Knochenrasseln und Kehlkopfgesang durchzogenen Musikkult? Zeit, den heidnischen Hype etwas unter die Lupe zu nehmen:
Der Wikinger-Fetisch: Die Sehnsucht nach der “Simplen Zeit”
Man könnte meinen, Heilung und Konsorten hätten das mysteriöse Rezept für den “authentischen” Wikinger-Sound entdeckt – dabei gibt es keinerlei historische Quellen für das meiste davon. Und dennoch: Ihre Shows sind ausverkauft, obwohl das Ganze eher nach einem schamanischen Drum Circle mit Extra-Bassline klingt (Louder). Menschen, die sonst mit der Antike nichts am Hut haben, lassen sich in Trance versetzen, nur weil jemand ein paar Knochengeräusche auf einer Loop-Maschine abfeuert.
Archaische Akustik oder angeschlagener Bass? Die Hexenküche der nordischen Sound-Collagen
Verwechselt bloß nicht Danheim mit einer authentischen Überlieferung. Stattdessen gibt es tiefe Bässe, die klingen, als würde Thor selbst die Lautsprecher einschlagen – gut für den Party-Berserker-Modus (Folk N Rock). Das Publikum, das in High-Tech-Städten wie Los Angeles oder Berlin lebt, transformiert sich plötzlich zu nordischen Naturburschen, die ihren inneren Odin entdecken, obwohl gestern erst Pumpkin Spice en vogue war.
Neolithischer New-Age-Hype: Die Auferstehung Heidnischer Hoch-Zeiten im Pop-Format
Wir haben die Vampir-Romantik und Zombie-Apokalypsen erfolgreich durchlebt, jetzt also Wikinger-Renaissance. Die Generation „Selfcare“ sucht nach echtem Einklang – und findet ihn ironischerweise in fiktiven Ritualen. Klar, was könnte besser helfen als ein Gruppenerlebnis bei Trommelschlägen und Schwertgeklirr, das uns an die Selbstheilungskräfte unserer Vorfahren erinnern soll (Louder)?
Spiele, Serien und Netflix – Der Endgegner Jeder Selbstfindung
Eivør gibt uns den passenden Soundtrack zu Games wie Assassin’s Creed, und plötzlich fühlen wir uns wie Ragnar, der digitale Ozeane überquert. Die Färingerin (oder so) bringt das mystische Gefühl der Wildnis ins heimische Wohnzimmer und führt uns zu einem mentalen Nordabenteuer, das fast zu episch für unsere Ikea-Wohnzimmer ist (Ave Noctum). Der Neofolk-Wahn hat dabei so viele Fans wie eine Staffel Vikings.
Urbane Heiden in Hipster-Metropolen
Ach ja, ironischerweise sind die größten Fans dieser Klänge in Städten wie London, New York und Berlin zu finden – nicht in den Fjorden oder Wäldern des Nordens. Yoga-Fans und Bio-Millennials sind begeistert und beschallen ihre Stadtwohnungen mit Kriegsgesängen von Danheim. Das ist die Art von „Zurück zur Natur“, die uns die Techno-Urbanität des 21. Jahrhunderts verschrieben hat.
Ob diese heidnische Renaissance das Spirituelle wirklich neu entflammt oder nur ein weiteres Indie-Subgenre bleibt, das wir in ein paar Jahren müde belächeln, steht in den Sternen.
Heilung: Runen, Rituale und Rockstarseelen
Die dänische Band Heilung, was auf Deutsch „Heilung“ bedeutet (ja, subtil), sieht sich als eine Art Schamanengruppe. Sie verwenden alles von Knochen bis hin zu Steinwerkzeugen, um Sounds zu erzeugen, die sich irgendwo zwischen heidnischem Ritual und einer epischen Schlachtfeldszene bewegen (Louder). Mit starkem Fokus auf die archaische Kraft des Klangs und der Wiederbelebung „ursprünglicher“ Musik kreieren sie eine Atmosphäre, die viele als spirituell oder tranceartig empfinden.
Heilung selbst beschreibt ihre Konzerte gerne als „verstärkte Geschichte“ – also als eine Art Zeitreise-Performance mit modernen Lautsprechern. Bei all der archäologischen Authentizität – von Knochenmikrofonen bis hin zu Trommeln aus Tierhaut – könnten diese Performances genauso gut Teil eines epischen Historienfilms sein, der bei voller Lautstärke im Wohnzimmer abläuft. Man spürt regelrecht den Atem der Ahnen.
Danheim: Der Technowikinger von Heute
Danheim, das Projekt des Dänen Mike Olsen, verfolgt eine etwas zugänglichere nordische Reise – ein wenig weniger rauchige Runen und stattdessen ein Soundteppich, der sich perfekt für epische Serienabende oder das nächste Fitnessstudio-Playlist-Update eignet. Olsen hat eine raffinierte Mischung aus elektronischen Beats und nordischen Mythen gefunden, die erstaunlich gut bei YouTube und Spotify funktioniert (Folk N Rock). Die Klänge sind weniger „archäologisch korrekt“, aber dafür für eine breite Hörerschaft attraktiv, was Danheim zu einer der meistgestreamten Bands im Neofolk macht. Mike Olsen könnte also als Wikinger der Streaming-Ära gesehen werden, der mit Synthesizer und Bass in die Popkultur stürmt, ohne dabei seinen nordischen Wurzeln zu sehr untreu zu werden. Eine gelungene Mischung für Fans, die es etwas rockiger und tanzbarer mögen.
Wardruna: Der mystische Brückenschlag zu Ragnarök
Wardruna, gegründet von Einar Selvik, ist für viele Fans der Einstieg in die Welt des nordischen Mystizismus. Die Band schafft eine intensive Atmosphäre und erreicht durch ihre Teilnahme am Soundtrack der Serie Vikings ein breites Publikum, das sich von den tiefen Trommelklängen und ätherischen Gesängen direkt in die rauen Landschaften Skandinaviens versetzt fühlt (Loudersound). Selvik und seine Bandkollegen scheuen sich nicht, nordische Spiritualität in ihrer Kunst lebendig werden zu lassen, oft basierend auf umfangreichen Studien nordischer Mythologie.
Der Mix aus akustischen Instrumenten wie der Krummharfe und dem Tagelharpa, sowie Selviks tiefer, beschwörender Stimme, gibt Wardruna einen ernsten, fast schon liturgischen Klang. Ein Konzert von Wardruna fühlt sich so an, als würde man eine spirituelle Erzählung lauschen – eine Erzählung von Natur, Schicksal und dem ewigen Kreislauf des Lebens. Manchmal glaubt man fast, Selvik hätte tatsächlich mit den Göttern gesprochen.
Eivør: Die nordische Stimme der Wildnis
Wenn es jemanden gibt, der die nordischen Klänge als Singer-Songwriterin und moderne Balladensängerin neu erfunden hat, dann ist das Eivør Pálsdóttir. Die färöische Sängerin wurde als das „nordische Wunder“ bekannt, nicht zuletzt, weil sie die isländische Landschaft musikalisch und visuell perfekt widerspiegelt (Ave Noctum). Ihre Musik hat eine leicht zugängliche, sanftere Note im Vergleich zu den donnernden Tönen von Heilung und Danheim, und gerade diese Feinheit hat sie zu einem echten Geheimtipp gemacht.
Eivør lässt sich schwer in eine Schublade packen: Mal ist sie Folk, mal Pop, und dann wieder eine erzählerische Künstlerin mit einem intensiven Hauch von Mystik. Durch ihre Beiträge zu Serien wie The Last Kingdom bringt sie ihre Zuhörer in diese scheinbar unberührte Welt der wilden Natur und Einsamkeit, die man von den Färöer-Inseln kennt. Ihre Stimme vermittelt ein Gefühl der Sehnsucht und der Ehrfurcht, das die Essenz des Nordens auf subtile, aber einnehmende Weise wiedergibt.
Forndom: Nordische Mystik trifft minimalistische Tiefe
Forndom, das Projekt des schwedischen Künstlers Ludvig Swärd, schafft Musik, die eher in Richtung Ambient und Dark Folk geht. Seine Inspiration zieht er aus dem Heidentum und der tiefen Spiritualität des Nordens. Swärds Musik ist subtil, eher meditativ und führt die Zuhörer auf eine fast transzendente Reise durch schwedische Wälder und Berge. Forndoms Alben, wie Dauðra Dura und Fädernas Boning, erzeugen ruhige, aber eindringliche Klanglandschaften, die eine meditative Qualität haben und besonders für Hörer geeignet sind, die eine ruhigere, introspektive Version nordischer Musik suchen (FolknRock).
Nytt Land: Sibirische Kälte und heidnische Gesänge
Nytt Land aus Sibirien hat eine besondere Position innerhalb der nordischen Szene, da sie sich sowohl von nordischen als auch sibirischen Schamanenritualen inspirieren lassen. Das Duo Anatoly und Natalia Pakhalenko verwendet neben traditionellen Instrumenten wie der Krummharfe und der Rahmentrommel auch Kehlkopfgesang, um ihre Musik zu kreieren. Die Einflüsse der eiskalten Weiten Sibiriens und ihre rauen, minimalistischen Kompositionen sorgen für eine geheimnisvolle und manchmal düstere Atmosphäre, die das Publikum in eine andere Welt entführt. Nytt Land steht für eine experimentelle Version von Neofolk, die gleichzeitig ethnische und archaische Elemente enthält (Loudwire).
Skáld: Nordische Tradition für die moderne Bühne
Skáld, ein französisches Musikprojekt, verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie Heilung, jedoch mit etwas poppigeren Elementen. Ihre Musik basiert auf altnordischen Texten und Mythen, und sie verwenden eine Mischung aus traditionellen nordischen Instrumenten und moderner Produktionstechnik. Die Sängerin Justine Galmiche und der Produzent Christophe Voisin-Boisvinet führen das Publikum mit Trommeln, Chorälen und kraftvollen Vocals direkt in die Welt der Wikinger. Skáld ist besonders bei Fans beliebt, die eine leicht zugänglichere Version der nordischen Klänge suchen und eine Mischung aus mystischen Themen und eingängigen Melodien schätzen (Metal Hammer).
Faun: Eine deutsche Fusion von Mittelalter und nordischem Folk
Faun, ursprünglich in der Mittelalterszene verankert, hat sich mittlerweile auch im Neofolk und nordischen Folk einen Namen gemacht. Die Band verbindet altnordische Themen mit einer breiten Palette traditioneller Instrumente und modernem Sounddesign. Ihr Stil ist eine facettenreiche Mischung, die mittelalterliche und heidnische Einflüsse zusammenbringt, oft mit einem Hang zum Storytelling. Besonders in Deutschland sind Faun eine der bekanntesten Bands, die mit heidnischen und naturverbundenen Themen spielen und damit das Interesse an nordischer Kultur weiter verbreiten (Metal.de).
Wardruna-Mitglieder und Seitenprojekte: Hugsjá und Ivar Bjørnson
Für Fans von Wardruna gibt es auch spannende Seitenprojekte wie Hugsjá, ein Kollaborationsprojekt zwischen Wardruna-Frontmann Einar Selvik und Ivar Bjørnson von Enslaved. Das Projekt erforscht die norwegische Landschaft und Geschichte, wobei es Altnorwegisch als lyrisches Element einsetzt. Hugsjá erweitert den Wardruna-Stil um neue Perspektiven und legt besonderen Wert auf die Verbindung zwischen Musik und Landschaft. Diese Kooperation zeigt, wie der nordische Sound über Genres hinweg verankert und immer wieder neu interpretiert wird (The Quietus).
Nebala: Archaische Ekstase
Nebala, das Projekt von Jonas Lorentzen, dem ehemaligen Sänger von Heilung, ist ein weiteres Beispiel für die Vielfalt der nordischen Musikszene. Lorentzen kombiniert archaische Elemente, hauptsächlich inspiriert von nordischer und persischer Mythologie, und erschafft Klänge, die wie ein zeitloses Ritual klingen. Nebala verwendet traditionelle Instrumente und rezitative Vocals, um eine Atmosphäre von Mystik und antiker Weisheit zu erzeugen. Lorentzen selbst beschreibt die Musik von Nebala als eine Art „Spiegel zur Seele“, der uns in den Zustand der Ekstase führen soll (FolknRock).
Mystik im modernen Musikformat
Obwohl Heilung, Danheim, Wardruna und Eivør auf den ersten Blick nach furchterregenden Kriegern und heidnischen Schamanen klingen, ist ihr Erfolg letztlich die perfekte Mischung aus Mythos und Moderne. Die Künstler haben ein Genre erschaffen, das nicht nur episch und hypnotisierend wirkt, sondern uns auch den perfekten Soundtrack für die nächste Wanderung oder Serienmarathons liefert – mit ein bisschen Opferungs-Ambient als Bonus
Das frühe 21. Jahrhundert wird als die Zeit gelten, wo wir wirklich ALLE auf das Drachenboot aufgesprungen sind:
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