1941: Tanna, Vanuatu. Sand, Strand, Tiki-Träume. Irgendeine polynesische Schönheit stolpert kichernd über eine Kiste Rum und erfindet spontan den Zombie. Im Hintergrund schwillt die Steel Guitar und irgendwo brät schon ein Schwein in Ananas, während die Männer auf ihren traditionallen Surfboards die Wellen unsicher machen.
1942: Propeller brummen, Jeep-Motoren heulen, Seabees lenken Bulldozer über die Korallenböden. In wenigen Tagen stehen auf der Insel 3 Runways, 4 Depots, 12 Funkmaste. 360 Tropenzelte, Generatoren, Feldküchen und eine Bühne für die Playmates der "USO"-Truppenbetreuung. Konvois rollen von links nach rechts und von rechts wieder nach links. Das ist keine Südsee-Romantik, sondern die amerikanische Armee auf dem Weg nach Japan, Freunde!
Das Kaiserreich hat die amerikanische 5. Flotte in Pearl angegriffen und soll jetzt selbst versenkt werden. Dazwischen stand eine schier unendliche Anzahl von Pazifik-Archipelen, auf denen sich Marines und die Imperiale Japanische Armee eine Inselsprung-Kampagne lieferten. Überall wurden Stützpunkte gebaut, um die Inseln gegen einen wiederholten feindlichen Vorstoß zu sichern.
Uniformierte Teams, klare Abläufe, Signalsoldaten, die mit orangenen Paddles in den Himmel dirigieren. Standard Operations Procedures, kein Zauber, nur Training und die größte industrielle Fertigungskapazität der Welt.
Nur dass es aus der Ferne wie Zauber wirkte. Irgendwo saß ein kleiner Einwohner-Junge mit einer Cola in der Hand und fragte sich, ob diese Aliens wirklich Menschen waren.
Sie waren nicht allein
„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“
Arthur C. Clarke
Auf ihrer Inselsprungkampagne hatte das US-Militär alles dabei. Sogar Schiffe, die Eiscreme produzierten. Falls man im Kugelhagel von Guadalcanal schnell mal einen McFlurry wegsnacken wollte. Für die Soldaten ein Stück Heimat, führte diese über sie hineinbrechende Fracht die Einwohner der Insel-Archipele - die seit Jahrhunderten ausschließlich von Poke Bowl lebten - in eine neue Welt ein: Radios, Rock'n'Roll, Jeeps und Jeans. Alles kam aus diesen Cargo-Kisten, die über der Insel abgeworfen wurden!
Wie erklärt man sich als polynesischer Perlentaucher dieses Übermaß an Ressourcen, die mitten im größten Krieg der Menschheit um die halbe Welt gebracht werden, nur um den amerikanischen GIs eine kleine Erinnerung an zu Hause zu geben?
John Frum: Der Heilsbringer ..und was ist „Cargo“ überhaupt?
Die Luft‑ und Seelogistik, die den Pazifikkrieg trug, ist in ihrem Ausmaß schon für ein westliches Hirn nur schwer zu ermessen. In der Schlussphase des Krieges meldete die US‑Marineführung in ihrem offiziellen Kriegsbericht, man habe monatlich rund 600.000 Long Tons (oder etwa 610.000 metrische Tonnen, das sind 1,5 Milliarden Teller Spathetti à 400 g oder etwa 120.000 schlechtgelaunte Elefanten) in den Pazifik verschifft. (U.S. Navy, U.S. Navy at War 1941–1945, kurz in Proceedings).
Auf der Handelsmarinen‑Seite zeigt der War Shipping Administration‑Bericht, wie unfassbar die Flüsse waren: Tanker beförderten 15.086.000 Long Tons an Erdölprodukten (entspricht etwa 15,3 Milliarden 1‑Literflaschen Mountain Dew) Richtung Front.
Alleine für 1944 weist eine amtliche Meldung zudem 77.508.000 Long Tons Gesamtladung (entspricht etwa 650 Milliarden mittelreifen Bananen mit Schokoglasur) aus, welche Schiffe der Vereinten Nationen in US‑Häfen übernommen haben, bevor sie auf die weltweiten Kriegsschauplätze verteilt wurden (Proceedings, April 1945).
Kurz gesagt: Hinter den Runways der Inselwelten stand ein logistisches Monster. Zwischen WSA‑Frachtschiffen, Navy‑Versorgern und dem Lufttransport verlegten die Alliierten im Pazifik jährlich mehrere Millionen Tonnen an Gütern! Das sind eine ganze Menge aufblasbarer Tiki-Bars.
Das meiste waren natürlich Munition, Ersatzteile und Nachschub, aber wie jeder gute Starship Trooper weiß, gehört die transparente Geige zur Truppenverpflegung.
https://www.youtube.com/watch?v=pzUjSEd0e3E
Video ist zwar Vietnam, aber hübscher zum angucken als Bob Hope
Weg: was?!
1945 gingen zwei neue Sonnen über Japan auf, und der Krieg würde jäh beendet. Während sich zuvor mit beeindruckender Präzision neues Cargo aus dem nichts auf den Inseln materialisierte, dematerialisierten sich schlussendlich die amerikanischen Truppen. Es wurde wieder leise und eins blieb ganz aus: die für die Truppenversorgung bestimmte Fracht!
Weder die Coca-Cola Company, noch Levi's oder der Playboy fanden es ausserhalb der Kriegsfrachtverteilung gewinnbringend genug, irgendwelche unbekannten Inseln mit ihrer Ware zu beliefern. Was muss das für ein Leben ohne den schwarzen Saft der Träume sein?! Unvorstellbar.
Und was hat das jetzt mit Cargo-Kul..
Das ist die Prämisse von Cargo‑Kulten: Wer die sichtbaren Gesten von Logistik und Macht akribisch reproduziert (Landebahn im Sand, improvisierter Tower, Flaggenzeremonie, Funkattrappen und Marschformationen) der macht nach innen plausibel, dass auch die unsichtbare Ursache zurückkehrt: der Nachschub.
In anderer Sprache: performative Imitation und Erwartungsökonomie ersetzen Produktionswissen. Auf Tanna heißt das Bambus als Antenne, Feuerstellen als Baken und ein fester 15.-Februar‑Takt als Zeitsteuerung der erhofften Ankunft (Smithsonian Magazine; Britannica; Lindstrom).
Die angebetete Gottheit ist hier nicht etwa irgendein Pazifikdämon, sondern die Frachtvielfalt des Military Sealift Commands (naja, so heißt es, stark verkleinert, heute)
http://gty.im/73379444
John Frum: Der Heilsbringer mit Stahlvogel‑Zeitplan
Wer ist „John Frum“? Eine Figur, die je nach Erzählung Soldat, Geist, Missionar oder messianischer Bote ist, oft als amerikanischer GI imaginiert. Der Name wabert zwischen John/Johnn/Brum; die Botschaft ist konstant: Kehrt zur „Kastom“ zurück, bewahrt eure Tradition, folgt den Ritualen und ich bringe Reichtum, Fracht, Wohlstand. Die Bewegung entstand im Umfeld von Kolonialkontakt, Missionsdruck und dem technomagischen Schock des Krieges; ihre Geschichte wurde unzählige Male beschrieben und diskutiert (Enzyklopädie‑Überblick, Hintergrund & Zahlen, inkl. aktuellem Rückgang der Anhängerschaft).
Wahrscheinlich war John einfach irgendein Major des letzten Pionierbattaillons, der mit den Aufräumarbeiten nach dem Krieg beschäftigt war und in guter alter M*A*S*H-Manier irgendwas wie "Was wollt ihr? Ich versteh euch nicht. Achso, Cola? Wo soll ich die herkriegen.. Ja, ist nicht gut für die Zähne. DIE ZÄHNE! Hier ist Kokosmilch, glaubt an eure Traditionen. Und jetzt lasst mich in Ruhe diese Stromleitung hier trennen, dann ruf ich die Stahlvögel wieder, okay?" geschwafelt hat.
Oder, als ob Miles O'Brien seinen eigenes Spindfach geerbt hätte.
https://youtu.be/A9sd10CHAP8?si=lGc1cRaoYIDLYsoP
Rituale, die die Piste polieren
Wenn die Gemeinde von Tanna ihre Rituale ausrollt, wirkt das weniger wie Folklore und mehr wie das Echo einer präzisen Choreografie. Männer bemalen sich Rangabzeichen auf die Oberarme und marschieren in sauberer Formation, als lägen die Befehle nach irgendwo auf dem Tisch. Bambus wird zu Gewehr, Uniform und Antenne zugleich, weil jedes Stück Material plötzlich Bedeutung trägt. Flaggen steigen am Morgen in den Himmel, als würde jemand unsichtbar die Tower‑Frequenz freischalten und der Ami zurückkehren. Auf den Sand wird eine Piste gezogen, sorgfältig markiert, mit Feuerstellen als Baken, und wenn die Nacht fällt, glimmt die Hoffnung in einem Muster, das von weitem wie Navigationslichter aussieht. Der 15. Februar bündelt das alles in einer Art jährlichem Neustart: Kava in den Schalen, Trommeln im Takt, Gesänge, die die alten und neuen Linien verbinden. Für Außenstehende ist es leicht, darin bloß Nachahmung zu sehen. Für die Beteiligten ist es eine Bedienungsanleitung in der einzigen Sprache, die damals zuverlässig funktionieren schien: Wer die Zeichen richtig setzt, macht eine Landung möglich.
Verwandte Bewegungen
John Frum ist nicht allein auf der Inselkarte millenaristischer Hoffnungen. Auf Tanna wurde auch der Prince‑Philip‑Kult bekannt, in dem Prinz Philip als Inkarnation irgendeiner Berggeist‑Prophezeiung verehrt wurde. Die Verknüpfung mit kolonialen Hierarchien ist offensichtlich: das ist ja, als würden die Ossis den Bundespräsidenten verehren, der zufällig beim Mauerfall im Dienst war. Die Erzählung ist jedenfalls eigenwillig konsequent (Prince Philip Movement). In Papua‑Neuguinea zeigen die Yali‑Bewegung und die Paliau‑Bewegung weitere Varianten des Kontaktschocks zwischen Missionsmodernität, Kolonialverwaltung und lokalen Ordnungsvorstellungen (Yali, Forschungsgeschichte; Paliau, Überblick).
Wie Cargo‑Kulte funktionieren: Hoffnung in Uniform
Anthropologisch betrachtet sind Cargo‑Kulte weniger „Kuriositäten“ als Antwortsysteme auf radikale Ungleichzeitigkeit: Hier die allumfassende Warenlogistik, dort eine Ökonomie des Gabentauschs und der lokalen Prestige‑Zirkulation. Die waren einfach noch nicht so weit und haben es nicht verstanden. Wenn Flugzeuge plötzlich tonnenweise Dinge ausspucken, ohne dass man die Produktionsketten versteht, kann man schon mal glauben, dass sie von Himmel fallen. Das erklärt die Mischung aus ritueller Imitation und moralischer Ökonomie, die die Bewegungen prägt (Britannica‑Einordnung; Lamont Lindstrom zur Begriffskritik und Popularisierung).
Existiert das heute noch? Ja klar.
Die John‑Frum‑Gemeinschaft schrumpft; es gibt Hinweise, dass nur noch einzelne Dörfer die vollständige Liturgie praktizieren, etwa Lamakara (aktuelle Zusammenfassung). Gleichzeitig lebt der Ausdruck „Cargo‑Kult“ global fort. Er wird in Technik‑ und Wissenskulturen als warnende Metapher verwendet: Form ohne Fundament, Ritual ohne Verständnis.
„Cargo‑Kult‑Wissenschaft“: Physiker Richard Feynman prägte den Begriff für Forschung, die die äußere Form von Wissenschaft imitiert, aber kritische Selbstprüfung vermeidet. Er warnte davor, dass es am einfachsten ist, sich selbst zu täuschen (Feynman‑Rede 1974, Zusammenfassung).
Millenarismen im Wandel: Neuere Studien verbinden Elemente von „Cargo‑Kult“ mit Verschwörungs‑ und Endzeiterzählungen, die Heilsversprechen an Krisen knüpfen. Das ist kein simpler 1:1‑Transfer, aber die psycho‑kulturelle Mechanik ähnelt sich: die Erwartung eines plötzlichen Umschlags in Fülle und Ordnung (Rezension und Forschungsstrang). Verdammte Hippies.
Start‑up‑ und Corporate‑Kulte: Innovationstheater, OKR‑Orakel, Daily‑Stand‑up als Ersatzreligion. Was zu helfen scheint, wird kopiert; was verstanden wird, eher selten. Sitzsäcke, Hierarchie wie ein Tannenbaum, Obstkorb und Kicker im Pausenraum. Analysten verorten „Cargo‑Kult“ in blind kopierter Unternehmenskultur, die Prozesse verehrt, nicht Prinzipien (Startup‑Beispiele und Heuristiken; Corporate‑Innovation als Cargo‑Kult).
Ja, es gibt noch konkrete Rituale auf Tanna. Und ja, es gibt sehr viele metaphorische Cargo‑Kulte in modernen Institutionen, die mit Buzzwords die Runway bemalen und sich wundern, warum der Flieger nicht landet.
Mad Max: Der Flug, der nicht kommt
Im Ödland der Erzählung sitzen Kinder um ein Archiv aus Plastikbildern und Satzfetzen, sie nennen es „The Tell“ (wie "Television" und "Erählung", stehse?!) und behandeln es wie einen Generator, der Erinnerungen in Motivation verwandelt. Ihr Versprechen trägt den Namen Captain Walker, und die Startbahn, die sie pflegen, führt nicht durch Palmen, sondern durch Ruinen. Trotzdem greifen dieselben Zahnräder ineinander wie am Strand von Tanna oder im Meetingraum von Marketingbutze12. Dort wird die militärische Geste rekonstruiert, hier das Cockpit‑Ritual einer verlorenen Zivilisation. Dort zurrt man Bambus zu Antennen und pusht Flaggen in den Wind, hier hält man die Geschichte am Laufen, bis ein Rumpf im Abendrot erscheint. Beides ist Arbeit an der Zukunft mit den Werkzeugen der Vergangenheit.
https://youtu.be/rn4aIinTJBQ?si=NOE3iGVi-rYtx1zC
Der Unterschied liegt weniger im Glauben als in den Bedingungen. Die Kinder kämpfen gegen eine Welt, die bereits zusammengebrochen ist, und halten die Erinnerung als letzte Infrastruktur am Leben. Die John‑Frum‑Gemeinschaft sah eine übermächtige Welt kommen und wieder verschwinden und versucht seitdem, ihren Rückkehrknopf zu finden. In beiden Fällen wird Zeit zur wichtigsten Ressource: Warten ist keine Pause, sondern ein Handwerk. Wer den Runway pflegt, hält die Gemeinschaft zusammen, und wer die Geschichte weitererzählt, verhindert, dass die Gegenwart alles verschluckt.
https://youtu.be/nFnlraWRPDI?si=YKeiaMtiVcSHs6Wy
Inventur der modernen Cargo‑Kulte: fünf frische Fundstücke
Damit niemand mit leeren Händen die Piste verlässt, hier eine pointierte Auswahl heutiger Phänomene, die cargo‑kultische Züge zeigen. Kein 1:1‑Gleichnis, eher ein Déjà‑vu der Mechanik:
Innovationstheater: Corporate Labs mit Neon‑Möbeln, Post‑its und „Fail‑Fast“‑Mantren – ohne Entscheidungsrechte, Budget oder Problem‑Ownership. Ritual: Demo‑Days. Ergebnis: Dekor. Diagnose: Form schlägt Fundament (Einordnung).
Startup‑Symptomatiken: Kopierte Tech‑Stacks und KPIs, weil „die Unicorns das auch so machen“. Ritual: Dashboard‑Dauerfeuer. Ergebnis: Burn Rate mit Wellness‑Aroma (Beispiele & Warnzeichen).
Cargo‑Kult‑Wissenschaft: Studien, die den Look & Feel von Science imitieren, aber beim ersten Blindtest kollabieren. Ritual: P‑Value‑Pilgern. Ergebnis: Replizierbarkeits‑Wüste (Feynman‑Rede).
Algorithmus‑Astrologie: Kennzahlen werden angerufen wie Wettergötter, Dashboards als Orakel gelesen. Ritual: wöchentliche Metrik‑Messen. Ergebnis: heilige Kurven, profane Entscheidungen (allgemeiner Überblick zu Begriff und Metaphorisierung: Lindstrom).
Jeder von uns kennt diesen seelenlosen, generischen Raum. Er ist gleichzeitig in verschiedenen Gebäuden.
Wenn man nichts über gute Go-To-Market Strategien weiß, imitiert man halt mit ernster Mine jeden Middle-Management Bullshit, den man jemals gesehen hat.
Was bleibt, wenn der Flieger nicht landet?
Vielleicht ist die eigentliche Pointe, dass Cargo‑Kulte keine „Anderen“ sind. Sie sind wir, nur deutlicher. Wir bauen Landebahnen aus Meetings, Tower aus Roadmaps und tragen Uniformen von Boss oder Joop. Und wenn nichts vom Himmel fällt, beschließen wir einen Workshop über Wolkenbildung.
Auf Tanna marschieren am 15. Februar Menschen im Takt über die Piste und halten die Hoffnung. Im Ödland rezitieren Überlebende die „Tell“ und halten die Erinnerung am Laufen. Und wir? Wir reden in Jour Fixes über die Verheißungen in "Q5": von Software, die noch nicht mal geplant ist und daher in keinem Quartal diesen Jahres ausrollen wird.
Falls euch beim nächsten All‑Hands jemand eine „Runway for Growth“ verspricht, schaut kurz zum Horizont und fragt euch: Haben wir eigentlich das Flugzeug dafür, oder nur den Tower aus Bambus? Und wenn es nur Bambus ist, spart euch die Parade.
Oder, wie Captain Walker sagen würde: „Einer von uns wird kommen.“ Sicher. Aber vielleicht ist „einer von uns“ einfach ihr selbst – mit einem Plan, der mehr kann als Business-Bingo. Ihr habt es in der Hand, richtige Experten zu werden.
Genau das sind die jährlich am 15. Februar statfindenden Paraden, Flaggen, Bambus‑Gewehre und markierte Pisten. Keine Parodie, sondern eine Bedienungsanleitung in der Sprache der Hoffnung.
1941: Tanna, Vanuatu. Sand, Strand, Tiki-Träume. Irgendeine polynesische Schönheit stolpert kichernd über eine Kiste Rum und erfindet spontan den Zombie. Im Hintergrund schwillt die Steel Guitar und irgendwo brät schon ein Schwein in Ananas, während die Männer auf ihren traditionallen Surfboards die Wellen unsicher machen.
1942: Propeller brummen, Jeep-Motoren heulen, Seabees lenken Bulldozer über die Korallenböden. In wenigen Tagen stehen auf der Insel 3 Runways, 4 Depots, 12 Funkmaste. 360 Tropenzelte, Generatoren, Feldküchen und eine Bühne für die Playmates der "USO"-Truppenbetreuung. Konvois rollen von links nach rechts und von rechts wieder nach links. Das ist keine Südsee-Romantik, sondern die amerikanische Armee auf dem Weg nach Japan, Freunde!
Das Kaiserreich hat die amerikanische 5. Flotte in Pearl angegriffen und soll jetzt selbst versenkt werden. Dazwischen stand eine schier unendliche Anzahl von Pazifik-Archipelen, auf denen sich Marines und die Imperiale Japanische Armee eine Inselsprung-Kampagne lieferten. Überall wurden Stützpunkte gebaut, um die Inseln gegen einen wiederholten feindlichen Vorstoß zu sichern.
Uniformierte Teams, klare Abläufe, Signalsoldaten, die mit orangenen Paddles in den Himmel dirigieren. Standard Operations Procedures, kein Zauber, nur Training und die größte industrielle Fertigungskapazität der Welt.
Nur dass es aus der Ferne wie Zauber wirkte. Irgendwo saß ein kleiner Einwohner-Junge mit einer Cola in der Hand und fragte sich, ob diese Aliens wirklich Menschen waren.
Sie waren nicht allein
„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“
Arthur C. Clarke
Auf ihrer Inselsprungkampagne hatte das US-Militär alles dabei. Sogar Schiffe, die Eiscreme produzierten. Falls man im Kugelhagel von Guadalcanal schnell mal einen McFlurry wegsnacken wollte. Für die Soldaten ein Stück Heimat, führte diese über sie hineinbrechende Fracht die Einwohner der Insel-Archipele - die seit Jahrhunderten ausschließlich von Poke Bowl lebten - in eine neue Welt ein: Radios, Rock'n'Roll, Jeeps und Jeans. Alles kam aus diesen Cargo-Kisten, die über der Insel abgeworfen wurden!
Wie erklärt man sich als polynesischer Perlentaucher dieses Übermaß an Ressourcen, die mitten im größten Krieg der Menschheit um die halbe Welt gebracht werden, nur um den amerikanischen GIs eine kleine Erinnerung an zu Hause zu geben?
John Frum: Der Heilsbringer ..und was ist „Cargo“ überhaupt?
Die Luft‑ und Seelogistik, die den Pazifikkrieg trug, ist in ihrem Ausmaß schon für ein westliches Hirn nur schwer zu ermessen. In der Schlussphase des Krieges meldete die US‑Marineführung in ihrem offiziellen Kriegsbericht, man habe monatlich rund 600.000 Long Tons (oder etwa 610.000 metrische Tonnen, das sind 1,5 Milliarden Teller Spathetti à 400 g oder etwa 120.000 schlechtgelaunte Elefanten) in den Pazifik verschifft. (U.S. Navy, U.S. Navy at War 1941–1945, kurz in Proceedings).
Auf der Handelsmarinen‑Seite zeigt der War Shipping Administration‑Bericht, wie unfassbar die Flüsse waren: Tanker beförderten 15.086.000 Long Tons an Erdölprodukten (entspricht etwa 15,3 Milliarden 1‑Literflaschen Mountain Dew) Richtung Front.
Alleine für 1944 weist eine amtliche Meldung zudem 77.508.000 Long Tons Gesamtladung (entspricht etwa 650 Milliarden mittelreifen Bananen mit Schokoglasur) aus, welche Schiffe der Vereinten Nationen in US‑Häfen übernommen haben, bevor sie auf die weltweiten Kriegsschauplätze verteilt wurden (Proceedings, April 1945).
Kurz gesagt: Hinter den Runways der Inselwelten stand ein logistisches Monster. Zwischen WSA‑Frachtschiffen, Navy‑Versorgern und dem Lufttransport verlegten die Alliierten im Pazifik jährlich mehrere Millionen Tonnen an Gütern! Das sind eine ganze Menge aufblasbarer Tiki-Bars.
Das meiste waren natürlich Munition, Ersatzteile und Nachschub, aber wie jeder gute Starship Trooper weiß, gehört die transparente Geige zur Truppenverpflegung.
Video ist zwar Vietnam, aber hübscher zum angucken als Bob Hope
Weg: was?!
1945 gingen zwei neue Sonnen über Japan auf, und der Krieg würde jäh beendet. Während sich zuvor mit beeindruckender Präzision neues Cargo aus dem nichts auf den Inseln materialisierte, dematerialisierten sich schlussendlich die amerikanischen Truppen. Es wurde wieder leise und eins blieb ganz aus: die für die Truppenversorgung bestimmte Fracht!
Weder die Coca-Cola Company, noch Levi's oder der Playboy fanden es ausserhalb der Kriegsfrachtverteilung gewinnbringend genug, irgendwelche unbekannten Inseln mit ihrer Ware zu beliefern. Was muss das für ein Leben ohne den schwarzen Saft der Träume sein?! Unvorstellbar.
Und was hat das jetzt mit Cargo-Kul..
Das ist die Prämisse von Cargo‑Kulten: Wer die sichtbaren Gesten von Logistik und Macht akribisch reproduziert (Landebahn im Sand, improvisierter Tower, Flaggenzeremonie, Funkattrappen und Marschformationen) der macht nach innen plausibel, dass auch die unsichtbare Ursache zurückkehrt: der Nachschub.
In anderer Sprache: performative Imitation und Erwartungsökonomie ersetzen Produktionswissen. Auf Tanna heißt das Bambus als Antenne, Feuerstellen als Baken und ein fester 15.-Februar‑Takt als Zeitsteuerung der erhofften Ankunft (Smithsonian Magazine; Britannica; Lindstrom).
Die angebetete Gottheit ist hier nicht etwa irgendein Pazifikdämon, sondern die Frachtvielfalt des Military Sealift Commands (naja, so heißt es, stark verkleinert, heute)
John Frum: Der Heilsbringer mit Stahlvogel‑Zeitplan
Wer ist „John Frum“? Eine Figur, die je nach Erzählung Soldat, Geist, Missionar oder messianischer Bote ist, oft als amerikanischer GI imaginiert. Der Name wabert zwischen John/Johnn/Brum; die Botschaft ist konstant: Kehrt zur „Kastom“ zurück, bewahrt eure Tradition, folgt den Ritualen und ich bringe Reichtum, Fracht, Wohlstand. Die Bewegung entstand im Umfeld von Kolonialkontakt, Missionsdruck und dem technomagischen Schock des Krieges; ihre Geschichte wurde unzählige Male beschrieben und diskutiert (Enzyklopädie‑Überblick, Hintergrund & Zahlen, inkl. aktuellem Rückgang der Anhängerschaft).
Wahrscheinlich war John einfach irgendein Major des letzten Pionierbattaillons, der mit den Aufräumarbeiten nach dem Krieg beschäftigt war und in guter alter M*A*S*H-Manier irgendwas wie "Was wollt ihr? Ich versteh euch nicht. Achso, Cola? Wo soll ich die herkriegen.. Ja, ist nicht gut für die Zähne. DIE ZÄHNE! Hier ist Kokosmilch, glaubt an eure Traditionen. Und jetzt lasst mich in Ruhe diese Stromleitung hier trennen, dann ruf ich die Stahlvögel wieder, okay?" geschwafelt hat.
Oder, als ob Miles O'Brien seinen eigenes Spindfach geerbt hätte.
Rituale, die die Piste polieren
Wenn die Gemeinde von Tanna ihre Rituale ausrollt, wirkt das weniger wie Folklore und mehr wie das Echo einer präzisen Choreografie. Männer bemalen sich Rangabzeichen auf die Oberarme und marschieren in sauberer Formation, als lägen die Befehle nach irgendwo auf dem Tisch. Bambus wird zu Gewehr, Uniform und Antenne zugleich, weil jedes Stück Material plötzlich Bedeutung trägt. Flaggen steigen am Morgen in den Himmel, als würde jemand unsichtbar die Tower‑Frequenz freischalten und der Ami zurückkehren. Auf den Sand wird eine Piste gezogen, sorgfältig markiert, mit Feuerstellen als Baken, und wenn die Nacht fällt, glimmt die Hoffnung in einem Muster, das von weitem wie Navigationslichter aussieht. Der 15. Februar bündelt das alles in einer Art jährlichem Neustart: Kava in den Schalen, Trommeln im Takt, Gesänge, die die alten und neuen Linien verbinden. Für Außenstehende ist es leicht, darin bloß Nachahmung zu sehen. Für die Beteiligten ist es eine Bedienungsanleitung in der einzigen Sprache, die damals zuverlässig funktionieren schien: Wer die Zeichen richtig setzt, macht eine Landung möglich.
Verwandte Bewegungen
John Frum ist nicht allein auf der Inselkarte millenaristischer Hoffnungen. Auf Tanna wurde auch der Prince‑Philip‑Kult bekannt, in dem Prinz Philip als Inkarnation irgendeiner Berggeist‑Prophezeiung verehrt wurde. Die Verknüpfung mit kolonialen Hierarchien ist offensichtlich: das ist ja, als würden die Ossis den Bundespräsidenten verehren, der zufällig beim Mauerfall im Dienst war. Die Erzählung ist jedenfalls eigenwillig konsequent (Prince Philip Movement). In Papua‑Neuguinea zeigen die Yali‑Bewegung und die Paliau‑Bewegung weitere Varianten des Kontaktschocks zwischen Missionsmodernität, Kolonialverwaltung und lokalen Ordnungsvorstellungen (Yali, Forschungsgeschichte; Paliau, Überblick).
Wie Cargo‑Kulte funktionieren: Hoffnung in Uniform
Anthropologisch betrachtet sind Cargo‑Kulte weniger „Kuriositäten“ als Antwortsysteme auf radikale Ungleichzeitigkeit: Hier die allumfassende Warenlogistik, dort eine Ökonomie des Gabentauschs und der lokalen Prestige‑Zirkulation. Die waren einfach noch nicht so weit und haben es nicht verstanden. Wenn Flugzeuge plötzlich tonnenweise Dinge ausspucken, ohne dass man die Produktionsketten versteht, kann man schon mal glauben, dass sie von Himmel fallen. Das erklärt die Mischung aus ritueller Imitation und moralischer Ökonomie, die die Bewegungen prägt (Britannica‑Einordnung; Lamont Lindstrom zur Begriffskritik und Popularisierung).
Existiert das heute noch? Ja klar.
Die John‑Frum‑Gemeinschaft schrumpft; es gibt Hinweise, dass nur noch einzelne Dörfer die vollständige Liturgie praktizieren, etwa Lamakara (aktuelle Zusammenfassung). Gleichzeitig lebt der Ausdruck „Cargo‑Kult“ global fort. Er wird in Technik‑ und Wissenskulturen als warnende Metapher verwendet: Form ohne Fundament, Ritual ohne Verständnis.
„Cargo‑Kult‑Wissenschaft“: Physiker Richard Feynman prägte den Begriff für Forschung, die die äußere Form von Wissenschaft imitiert, aber kritische Selbstprüfung vermeidet. Er warnte davor, dass es am einfachsten ist, sich selbst zu täuschen (Feynman‑Rede 1974, Zusammenfassung).
Millenarismen im Wandel: Neuere Studien verbinden Elemente von „Cargo‑Kult“ mit Verschwörungs‑ und Endzeiterzählungen, die Heilsversprechen an Krisen knüpfen. Das ist kein simpler 1:1‑Transfer, aber die psycho‑kulturelle Mechanik ähnelt sich: die Erwartung eines plötzlichen Umschlags in Fülle und Ordnung (Rezension und Forschungsstrang). Verdammte Hippies.
Start‑up‑ und Corporate‑Kulte: Innovationstheater, OKR‑Orakel, Daily‑Stand‑up als Ersatzreligion. Was zu helfen scheint, wird kopiert; was verstanden wird, eher selten. Sitzsäcke, Hierarchie wie ein Tannenbaum, Obstkorb und Kicker im Pausenraum. Analysten verorten „Cargo‑Kult“ in blind kopierter Unternehmenskultur, die Prozesse verehrt, nicht Prinzipien (Startup‑Beispiele und Heuristiken; Corporate‑Innovation als Cargo‑Kult).
Ja, es gibt noch konkrete Rituale auf Tanna. Und ja, es gibt sehr viele metaphorische Cargo‑Kulte in modernen Institutionen, die mit Buzzwords die Runway bemalen und sich wundern, warum der Flieger nicht landet.
Mad Max: Der Flug, der nicht kommt
Im Ödland der Erzählung sitzen Kinder um ein Archiv aus Plastikbildern und Satzfetzen, sie nennen es „The Tell“ (wie "Television" und "Erählung", stehse?!) und behandeln es wie einen Generator, der Erinnerungen in Motivation verwandelt. Ihr Versprechen trägt den Namen Captain Walker, und die Startbahn, die sie pflegen, führt nicht durch Palmen, sondern durch Ruinen. Trotzdem greifen dieselben Zahnräder ineinander wie am Strand von Tanna oder im Meetingraum von Marketingbutze12. Dort wird die militärische Geste rekonstruiert, hier das Cockpit‑Ritual einer verlorenen Zivilisation. Dort zurrt man Bambus zu Antennen und pusht Flaggen in den Wind, hier hält man die Geschichte am Laufen, bis ein Rumpf im Abendrot erscheint. Beides ist Arbeit an der Zukunft mit den Werkzeugen der Vergangenheit.
Der Unterschied liegt weniger im Glauben als in den Bedingungen. Die Kinder kämpfen gegen eine Welt, die bereits zusammengebrochen ist, und halten die Erinnerung als letzte Infrastruktur am Leben. Die John‑Frum‑Gemeinschaft sah eine übermächtige Welt kommen und wieder verschwinden und versucht seitdem, ihren Rückkehrknopf zu finden. In beiden Fällen wird Zeit zur wichtigsten Ressource: Warten ist keine Pause, sondern ein Handwerk. Wer den Runway pflegt, hält die Gemeinschaft zusammen, und wer die Geschichte weitererzählt, verhindert, dass die Gegenwart alles verschluckt.
Inventur der modernen Cargo‑Kulte: fünf frische Fundstücke
Damit niemand mit leeren Händen die Piste verlässt, hier eine pointierte Auswahl heutiger Phänomene, die cargo‑kultische Züge zeigen. Kein 1:1‑Gleichnis, eher ein Déjà‑vu der Mechanik:
Innovationstheater: Corporate Labs mit Neon‑Möbeln, Post‑its und „Fail‑Fast“‑Mantren – ohne Entscheidungsrechte, Budget oder Problem‑Ownership. Ritual: Demo‑Days. Ergebnis: Dekor. Diagnose: Form schlägt Fundament (Einordnung).
Startup‑Symptomatiken: Kopierte Tech‑Stacks und KPIs, weil „die Unicorns das auch so machen“. Ritual: Dashboard‑Dauerfeuer. Ergebnis: Burn Rate mit Wellness‑Aroma (Beispiele & Warnzeichen).
Cargo‑Kult‑Wissenschaft: Studien, die den Look & Feel von Science imitieren, aber beim ersten Blindtest kollabieren. Ritual: P‑Value‑Pilgern. Ergebnis: Replizierbarkeits‑Wüste (Feynman‑Rede).
Algorithmus‑Astrologie: Kennzahlen werden angerufen wie Wettergötter, Dashboards als Orakel gelesen. Ritual: wöchentliche Metrik‑Messen. Ergebnis: heilige Kurven, profane Entscheidungen (allgemeiner Überblick zu Begriff und Metaphorisierung: Lindstrom).
Jeder von uns kennt diesen seelenlosen, generischen Raum. Er ist gleichzeitig in verschiedenen Gebäuden.
Wenn man nichts über gute Go-To-Market Strategien weiß, imitiert man halt mit ernster Mine jeden Middle-Management Bullshit, den man jemals gesehen hat.
Was bleibt, wenn der Flieger nicht landet?
Vielleicht ist die eigentliche Pointe, dass Cargo‑Kulte keine „Anderen“ sind. Sie sind wir, nur deutlicher. Wir bauen Landebahnen aus Meetings, Tower aus Roadmaps und tragen Uniformen von Boss oder Joop. Und wenn nichts vom Himmel fällt, beschließen wir einen Workshop über Wolkenbildung.
Auf Tanna marschieren am 15. Februar Menschen im Takt über die Piste und halten die Hoffnung. Im Ödland rezitieren Überlebende die „Tell“ und halten die Erinnerung am Laufen. Und wir? Wir reden in Jour Fixes über die Verheißungen in "Q5": von Software, die noch nicht mal geplant ist und daher in keinem Quartal diesen Jahres ausrollen wird.
Falls euch beim nächsten All‑Hands jemand eine „Runway for Growth“ verspricht, schaut kurz zum Horizont und fragt euch: Haben wir eigentlich das Flugzeug dafür, oder nur den Tower aus Bambus? Und wenn es nur Bambus ist, spart euch die Parade.
Oder, wie Captain Walker sagen würde: „Einer von uns wird kommen.“ Sicher. Aber vielleicht ist „einer von uns“ einfach ihr selbst – mit einem Plan, der mehr kann als Business-Bingo. Ihr habt es in der Hand, richtige Experten zu werden.
Genau das sind die jährlich am 15. Februar statfindenden Paraden, Flaggen, Bambus‑Gewehre und markierte Pisten. Keine Parodie, sondern eine Bedienungsanleitung in der Sprache der Hoffnung.